Der Weg zu einer verantwortungsvollen Architektur

« Stahlbetonhölle » von Hassan Fathy, aufgeführt an der Eröffnung des Salon Suisse. ©Rachele Maistrello
Der Salon Suisse in Venedig
Der Salon Suisse ist das von Pro Helvetia initiierte, offizielle Veranstaltungsprogramm im Rahmen der Biennale von Venedig.
Seit 2012 wird die Salonleitung jedes Jahr einem Salonnier oder einer Salonnière anvertraut. Das Programm findet im Palazzo Trevisan degli Ulivi, Sitz des Schweizer Konsulats, statt. Dank dieser konsularen Präsenz ist Pro Helvetia während des ganzen Jahres Mitorganisator zahlreicher kultureller Veranstaltungen.
Der Salon Suisse versteht sich als Plattform für grundlegende Überlegungen zu Architektur und Gegenwartskunst. Er organisiert Veranstaltungen in Ergänzung zum Schweizer Pavillon in den Giardini der Biennale. Wenn sich die Hektik der Eröffnungswoche der Biennale etwas gelegt hat, bietet der Salon Suisse bis zum offiziellen Ende der Ausstellungen Fachleuten sowie Architektur- und Kunstinteressierten die Möglichkeit, sich in einer entspannten, informellen Atmosphäre auszutauschen.
2016 wird der Salon Suisse von Leïla el-Wakil gestaltet. Der Architekt Christian Kerez stellt im Schweizer Pavillon sein Projekt Incidental Space aus.as Er

«Wake up !»
Bis zum Ende der Architekturbiennale von Venedig veranstaltet der Salon Suisse von Leïla el-Wakil kuratierte Treffen. Die Architektin und Kunsthistorikerin ruft zur Sensibilisierung auf. Gibt es einen Weg zu einer verantwortungsvollen Architektur? Architekteninnen, Ingenieure, Forscherinnen und Künstler sind eingeladen, konstruktive und inspirierende Lösungsansätze zu erarbeiten. Auszüge aus dem Interview. Die vollständige Fassung ist auf Französisch verfügbar.
Worum geht es, grob skizziert, bei den von Ihnen organisierten Treffen?
L.e-W: Der Salon Suisse soll als Alternative zu den vorherrschenden Architekturtrends, die von der weltweiten Globalisierung und Industrialisierung geprägt sind und von einigen grossen Konzernen vorgegeben werden, neue und globalisierungskritische Wege aufzeigen. Dabei geht es nicht darum, sich in einem präzis ausgesteckten Rahmen zu bewegen. Verantwortungsvolle Architektur lässt sich nicht auf einen Ansatz reduzieren, der zu Unrecht als der einzig richtige angesehen wird, sondern bleibt offen für verschiedene Möglichkeiten.
Das Juni-Programm des Salons « Let’s rediscover » veranschaulicht die Bedeutung, die wir den Lehren der Vergangenheit beimessen, die Wichtigkeit des Konkreten und Greifbaren. Welches sind für Sie als Historikerin die Paradebeispiele einer verantwortungsvollen Architektur?
L.e-W: Der Salon Let’s rediscover gab den Teilnehmern im Juni Gelegenheit, den Lehmbau neu zu entdecken. Viele zeitgenössische Künstler setzen sich mit dieser Technik auseinander. Von allen traditionellen Materialien ist Lehm wahrscheinlich dasjenige, über das am meisten geforscht wird und das neue Ideen entstehen lässt.
Mich interessieren vor allem Projekte für eine gemeinschaftliche Architektur. Sie sollen es ermöglichen, benachteiligte Bevölkerungsgruppen ohne Tabula-rasa-Politik umzusiedeln und sanfte Lösungen zu finden, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden.
Video des Filmemachers Samuel Dématraz für die Präsentation der Gruppe Terrabloc
Den Menschen, das Material und Überschaubarkeit wieder ins Zentrum der Architektur rücken: Wie ist man anlässlich des Salons « Let’s build » vom Monat September an diese Aufgabe herangegangen?
L.e-W: Heutzutage geht es vor allem darum, wissenschaftliche Architektur, wie sie an den grossen Architekturschulen gelehrt wird, und von den Einwohnerinnen und Einwohnern betriebene einheimische Architektur in Einklang zu bringen. Der Salon Let’s build hat sich mit dem Thema des Selbstbaus auseinandergesetzt. Die Gäste des Salons haben einfache industrielle (Spritzbeton) und handwerkliche (Lehmbaustoffe) Techniken vorgestellt.
Workshop mit Daniel Grataloup, Campo Sant’Agnese © Rachele Maistrello
Die Höhlenbewohner spielen in unserem kollektiven Bewusstsein eine fast mythische Rolle. Anlässlich des Salons Let’s dig, der vom 20 –22. Oktober stattfindet, schlagen Sie eine Neuinterpretation der unterirdischen Architektur vor. Worum geht es dabei und vor welche Herausforderungen werden wir gestellt?
L.e-W: Die Möglichkeiten der unterirdischen Architektur werden unterschätzt. Aspekte wie Erdbebensicherheit und Umweltschutz von ganz oder teilweise unterirdisch angelegten Höhlenbauten sind von grosser Bedeutung. Einige Architekten, die Wert darauf legen, die landschaftlichen Gegebenheiten bei ihren Projekten zu berücksichtigen, schrecken auch nicht davor zurück, einen Teil der Gebäude in das Gelände hineinzugraben. Es ist wichtig, die Möglichkeiten der negativen Architektur im Hinterkopf zu behalten, denn ihre ökonomischen und ökologischen Vorteile sind manchmal grösser als diejenigen von oberirdischen Bauten.
Der Salon Suisse wurde im Mai mit einem Theaterstück eröffnet. Den Schlusspunkt bildet im Rahmen des Salons Let’s reduce eine Performance. Kann man über Architektur sprechen, ohne selber Architekt zu sein?
L.e-W: « Stahlbetonhölle » wurde 1964 vom Architekten, Intellektuellen und Schriftsteller Hassan Fathy geschrieben. Anlässlich der Eröffnung des Salon Suisse setzt sich die satirische Komödie kritisch mit der Globalisierung von Architektur und Städtebau sowie mit der für das extreme Sahara-Klima ungeeigneten Verwendung von Stahlbeton auseinander. Die Schlussperformance «Let’s keep the door ajar» von AJAR ist eine Überraschung. Sie wird von einigen Mitgliedern dieses literarischen Kollektivs für uns vorbereitet. Unter den jungen Autoren befindet sich mit Guy Chevalley, der eine sehr interessante Masterarbeit über die Genfer Architektin Anne Torcapel geschrieben hat, mindestens ein Spezialist der Architekturgeschichte. Man kann also nicht behaupten, das die Eröffnungs- oder die Schlussvorstellung von Berufsfremden stammen.
Alle Meinungen zur Architektur sind legitim. Bekanntlich zeichnet ja der Gebrauchswert die Architektur aus. Ist es da nicht gerechtfertigt, wenn der Benutzer zu Wort kommt? Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass die seminalen Texte der Architekturtheorie von Nicht-Architekten geschrieben wurden, angefangen mit « De Architectura libri decem » von Leon Battista Alberti, dem florentinischem Humanisten, der eigentlich Jurist war. Alejandro Aravena nimmt die Biennale zum Anlass, die Tore der architektonischen Auseinandersetzung weit zu öffnen und nicht nur den angeblichen Insidern die Möglichkeit zu geben, sich zu äussern.