Über 6000 unterstützte Kunst- und Kulturvorhaben in der Schweiz und in 120 Ländern: Pro Helvetia blickt auf ein vielfältiges Jahr 2019 zurück.
Vorwort von Charles Beer und Philippe Bischof
Ein Blick zurück kann dabei helfen, klarer nach vorne zu schauen. So geht es auch uns, wenn wir auf die 80-jährige Geschichte von Pro Helvetia zurückblicken: Wer hätte gedacht, dass aus der im Jahr 1939 politisch motivierten Gründungsidee einer «Arbeitsgemeinschaft für Schweizerische Kulturwahrung und Kulturwerbung » die heutige Kulturstiftung Pro Helvetia entstehen würde, die mit tiefer Überzeugung und grossem Engagement Schweizer Kulturprojekte in über 100 Ländern der Welt unterstützt?
Eine Geschichte klingt, weil sie ja nachträglich erzählt wird, oft alternativlos und folgerichtig. Dass es auch hätte anders kommen können und dass es, je nach Standpunkt und -ort der Erzählerin oder des Erzählers, immer auch mehrere Geschichten gibt, die zu erzählen wären, geht dabei im Alltag der schnellen Entscheidungen oft vergessen. Insbesondere für uns, die wir weltweit aktiv sind, gilt es achtsam gegenüber Differenzen zu sein, denn zu Recht verweist die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie auf die alle betreffende «Gefahr einer einzigen Geschichte».
Der Auftrag und die Inhalte von Pro Helvetia haben sich über die vielen Jahre entwickelt – natürlich nicht in linearer Weiterführung der Gründungsidee, sondern in permanenter Wechselbeziehung zwischen Kultur, Politik und Gesellschaft. Diese war keineswegs immer gradlinig und konfliktfrei. Und doch hat sich im Laufe der (Zeit-)Geschichten in den Tätigkeiten und Zielen von Pro Helvetia eine verbindende Haltung herauskristallisiert. Getragen von der kulturpolitischen Idee der Verbreitung freiheitlicher und demokratischer Werte, versuchen wir in der Stiftung eine Politik der Verantwortung und der Offenheit zu leben: Gegenüber dem zeitgenössischen Kunst- und Kulturschaffen, gegenüber einer offenen und diversen Gesellschaft sowie gegenüber dem Wissen um die Pluralität von Geschichte und Geschichten in unseren Begegnungen mit anderen Kulturen, sowohl in der Schweiz selbst wie auch in der Welt.
Diese Haltung scheint uns heute wichtiger denn je, denn im Jahr 2019 hat diese Wechselbeziehung zwischen Kultur, Politik und Gesellschaft an Intensität und Spannung erneut zugenommen. Die aktuellen Konflikte und Radikalisierungen, die viele Gesellschaften und Staatssysteme erfahren, haben auch vor Kultur und Kunst nicht Halt gemacht. Im Gegenteil: Die Kontroverse über Meinungs- und Ausdrucksfreiheit – ohne welche Kunst weder entstehen noch wahrgenommen oder diskutiert werden kann – gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Ein «Ende der Geschichte» ist nicht in Sicht, ein «Ende der Geschichten» ebenfalls nicht. Selten gab es in den vergangenen Jahren so viele soziale Bewegungen, politische Verschiebungen, kulturelle und wirtschaftliche Konflikte in so vielen Teilen der Welt. Betroffen sind auch Gebiete unseres Aussennetzes. Wir verfolgen daher die Nachrichten von dort mit ganz besonderem Interesse, denn in Zeiten hoher Vernetzung sind wir alle von den globalen Geschehnissen betroffen, direkt oder indirekt. Und wir erleben täglich, wie viel Einfühlungsvermögen, zwischenmenschlicher Respekt und visionäre Intelligenz in die Förderung und den Austausch von Kultur gesteckt werden kann und muss.
2019 war auch ein intensives Jahr innerhalb unserer Stiftung: Die Sanierung des Hauptsitzes in Zürich, das Aufgleisen und Umsetzen einer Organisationsentwicklung, das Schreiben der nächsten Kulturbotschaft, die Vorbereitungen für die neue internationale Strategie waren nur einige der zahlreichen relevanten Projekte auf dem Weg in die Zukunft. Als interner Höhepunkt trafen sich Ende August 2019 zum ersten Mal in unserer Geschichte alle Mitarbeitenden unserer Aussenstellen in Zürich, um in einer intensiven Woche voneinander zu lernen und um unser globales Netzwerk durch persönliche Begegnungen weiter zu stärken. Am «Tag der offenen Tür» im neu-alten Gebäude am Hirschengraben stand schliesslich gegen Jahresende der Austausch mit der Bevölkerung auf dem Programm: Unsere Türen für alle Interessierten zu öffnen und diesen unsere Arbeit vorzustellen, war ein sehr emotionaler Moment.
Auch auf der Ebene des Stiftungsrates gab es Veränderungen. Peter Siegenthaler trat im März 2019 zurück, Marie-Thérèse Bonadonna, Marco Franciolli, Johannes Schmid-Kunz, Nicole Seiler verliessen uns per Ende 2019. Der Bundesrat wählte für ihre Nachfolge fünf neue Mitglieder, die wir willkommen heissen: Gianfranco Helbling, Esra Küçük, Sarah Lombardi, Elodie Pong und Karl Schwaar. Wir bedanken uns an dieser Stelle ganz herzlich für das Engagement und die wertvolle Arbeit der abtretenden und verbleibenden Stiftungsrätinnen und Stiftungsräte. In tiefer Trauer mussten wir uns von Myriam Prongué verabschieden, die seit 2014 die Abteilung Theater geleitet hat. Ihr allzu früher Tod nach schwerer Krankheit hat sie abrupt aus ihrem grossen Engagement für die Theaterlandschaft Schweiz herausgerissen. Abschied genommen haben wir auch von Edgar Tripet, Vizepräsident des Stiftungsrates (1979–1990) und Mitverfasser des kulturpolitisch bedeutenden Clottu-Bericht von 1975, der Ende Jahr verstorben ist.
Im wichtigen und allem zugrundeliegenden Tagesgeschäft von Pro Helvetia, der Förderung von Kunst- und Kulturschaffenden und der Verbreitung ihrer Arbeiten, wurde 2019 eine sehr hohe Anzahl Gesuche bearbeitet sowie zahlreiche Vorhaben unterstützt und initiiert. Wie jedes Jahr fanden sich darunter zahlreiche Entdeckungen und Überraschungen in beeindruckender Vielfalt. Von wirkungsvoller internationaler Ausstrahlung waren einmal mehr die Projekte in Form von Wissensaustausch oder Plattformen: beispielsweise in Südamerika – einer Region, die wir gerade vertieft kennenlernen – am Schweizer Gastlandauftritt an der Kinderbuchmesse in Bologna oder am «Edinburgh Festival Fringe», wo Pro Helvetia erstmals eine performative «Swiss Selection» präsentierte. Diese und viele weitere Veranstaltungen ermöglichten neue Begegnungen und Kollaborationen und trugen so – jede auf ihre Weise – dazu bei, die vielen Geschichten der Kunstschaffenden in die Welt zu tragen.
2019 hat Pro Helvetia mehr als 1600 Kunst- und Kulturvorhaben in der ganzen Schweiz unterstützt. Die Förderung des vielfältigen künstlerischen Schaffens in der Schweiz wie auch dessen Verbreitung in den verschiedenen Landesregionen stehen im Fokus der Inlandaktivitäten von Pro Helvetia. Als nationale Stiftung unterstützt Pro Helvetia kulturelle Projekte von gesamtschweizerischer Bedeutung.
Im Rahmen ihrer Auslandaktivitäten unterstützte Pro Helvetia im Jahr 2019 insgesamt über 4500 Kunst- und Kulturvorhaben in 120 Ländern. Pro Helvetia spricht Beiträge an Kunstprojekte aus der Schweiz, die im Ausland präsentiert werden. Zudem fördert sie die internationale Promotion von Schweizer Kunst und Kultur an Plattformen, beispielsweise Fachmessen und Biennalen. Ihr Aussennetz sowie ihre Länderprogramme unterstützen den Austausch mit anderen Kulturräumen.
Zum Aussennetz von Pro Helvetia gehören fünf Verbindungsbüros, das Centre culturel suisse (CCS) in Paris und mehrere Partnerinstitutionen. Das Programm «Coincidencia – Kulturaustausch Schweiz-Südamerika» lotet derzeit das Potenzial aus für die Eröffnung eines neuen Verbindungsbüros im südamerikanischen Raum. Während des Berichtjahrs haben die Verbindungsbüros neue Partnerschaften in verschiedenen Ländern etabliert, um die Erschliessung von neuen Regionen und Märkten für den kulturellen Austausch und die Verbreitung der Schweizer Kultur zu fördern.
Von den 42,4 Millionen Franken, die Pro Helvetia 2019 zur Verfügung gehabt hat, wurden 87,2 Prozent direkt in die Kultur investiert. Der Anteil der Administrationskosten lag mit 12,8 Prozent wie bereits in den Vorjahren deutlich unter der strategischen Vorgabe des Bundes von 15 Prozent. Im Jahr 2019 erhielt Pro Helvetia insgesamt 5348 Gesuche. Der Anteil bewilligter Gesuche stieg im Vergleich zum Vorjahr um rund einen Prozentpunkt auf 48,4 Prozent.
Pro Helvetia führt regelmässig Evaluationen zu ihren wichtigsten Programmen und Fördermassnahmen durch. Im Jahr 2019 hat sie den Schwerpunkt «Kultur und Wirtschaft», das Programm «Coincidencia – Kulturaustausch Schweiz-Südamerika» und die Promotionsplattform «Sélection Suisse en Avignon» evaluiert. Die Evaluationen geben wichtige Hinweise über die Qualität der verschiedenen Aktivitäten und über allfälligen Anpassungsbedarf.
Die externe Evaluation des Schwerpunkts «Kultur und Wirtschaft» beweist, dass dieses Pilotprojekt Früchte trägt. Der Schwerpunkt ist Teil der Kulturbotschaft 2016–2020 und ermöglichte Pro Helvetia die Einführung von Massnahmen, um Kreativen und aufstrebenden Talenten in den Bereichen interaktive Medien und Design zu helfen, sich das Rüstzeug für ihre Entwicklung anzueignen. Er verhilft den Akteuren des Bereichs zu einem Mehrwert, indem er ihnen den Marktzugang erleichtert, sie bei der Professionalisierung und dem Aufbau eines Netzwerks unterstützt und ihnen Wissen und Know-how zur Verfügung stellt. Die über 700 bis heute im Rahmen der verschiedenen Ausschreibungen eingereichten Projekte zeigen, dass der Schwerpunkt einem echten Bedürfnis der Szene entspricht. Die Evaluation identifizierte zudem Verbesserungspotenzial für das Matchmaking und das Coaching und schlägt neue Hilfsmittel vor. Diese Beobachtungen und Empfehlungen werden in die laufenden Überlegungen zur nachhaltigen Weiterführung dieses Pilotdispositivs einbezogen.
Zur Erschliessung neuer Auftritts- und Austauschmöglichkeiten in einer kulturell äusserst vielfältigen und dynamischen Weltregion lancierte die Stiftung im Rahmen der Kulturbotschaft 2016–2020 das Programm «Coincidencia» zwischen der Schweiz und Südamerika. Die Ende 2019 durchgeführte Evaluation des Programms sollte überprüfen, ob Südamerika ein zukunftsträchtiges und relevantes Umfeld für den verstärkten Kulturaustausch und die Promotionsaktivitäten der Stiftung bietet. Das quantitative Potenzial im Hinblick auf den künstlerischen und kulturellen Austausch wurde mit über 235 Projekten mit rund 600 Veranstaltungen als sehr hoch beurteilt. Die zusätzlich untersuchten Parameter waren die Qualität der bisherigen Projekte, die geografische Reichweite, die Qualität der Partnerschaften, die wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Situation sowie die Struktur und Finanzierung einer möglichen ständigen Präsenz. Die Resultate bilden die Grundlage für den Entscheid über die Eröffnung eines neuen Verbindungsbüros in Südamerika.
2016 lancierte Pro Helvetia gemeinsam mit der «Commission romande de diffusion des spectacles» (Corodis) die «Sélection Suisse en Avignon», eine Schweizer Plattform am «Festival OFF d’Avignon». Das Ziel ist, an diesem wichtigsten Branchentreffen im frankophonen Raum die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Schweizer Szene zu lenken und den ausgewählten Produktionen damit zu mehr Gastspielen im Ausland zu verhelfen. Eine nach drei Auflagen durchgeführte Evaluation hat ergeben, dass die «Sélection Suisse» in kurzer Zeit sehr viel Sichtbarkeit gewonnen und die ausgewählten Tanz- und Theaterschaffenden erfolgreich vernetzt hat. Zum Zeitpunkt der Evaluation waren bereits 236 Gastspiele im Ausland bestätigt, die von der Plattform ausgegangen waren. Jedes Jahr haben rund 500 Programmverantwortliche die Schweizer Stücke in Avignon visioniert; jeweils 60 bis 80 Presseartikel sind dazu jährlich erschienen, teilweise in den grossen französischen Tageszeitungen. Aufgrund der sehr positiven Evaluation hat Pro Helvetia entschieden, das Projekt für weitere vier Jahre bis 2023 zu unterstützen sowie dessen Leitung für zwei Jahre zu verlängern, damit die erfolgreiche Aufbauarbeit konsolidiert und weiterentwickelt werden kann.
Um ältere Jahresberichte einzusehen, kontaktieren Sie uns bitte unter communication@prohelvetia.ch.