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Marie Matusz

[English version]


Marie Matusz "Soon", 2021 © Büttner

Soon, 2021
Glas, Durchmesser je 37 cm


Ein Gesicht mit einem Mund, zwei Nasen und drei Augen – seit längerem arbeitet Marie Matusz mit dieser kuriosen Figur, die ihren Ursprung in einem italienischen Hinterhof hat. Matusz fand dort eine gebrochene Steinscheibe, auf ihr das Relief dieser ambiguen Gestalt. Mond und/oder Sonne? Zwei Gesichter überlagern sich; das linke und das rechte Auge sind nach oben gerichtet, während das mittlere geradeaus den Blickkontakt sucht. Von antiken Reliefdarstellungen spannt Matusz den Bogen zu traditionellen asiatischen Philosophien. Das rechte Auge steht in der chinesischen Tao-Philosophie für die Sonne, für Aktivität und das Zukünftige, das Linke für den Mond, für Passivität und Vergangenheit, das dritte Auge schliesslich symbolisiert die Überwindung dieser Dualität und das intuitive Wahrnehmen. Bekannt sind auch die dreiäugigen Darstellungen der hinduistischen Gottheit Shiva.

Matusz unterstreicht die Ambiguität der Figur nicht nur, indem sie zwei identische Repliken anfertigt, sondern sie ausserdem in Glas giessen lässt. Hinterkopf an Hinterkopf empfangen und verabschieden die durchsichtigen Gesichter die Mitarbeitenden. Manchmal ist kaum mehr als ein Schatten zu erkennen, dann wieder reflektiert die Sonne im Glas. Auf Augenhöhe montiert, zielt Matusz auf einen Moment des Innehaltens an diesem Ort zwischen Öffentlichkeit und Institution ab – auf eine Begegnung mit dem Selbst. Die Künstlerin interessiert sich dabei für die Verbindungen, die eine künstlerische Arbeit zur Person, die sie betrachtet, aufbauen kann – nicht als Objekt, das Wissen vermittelt, nicht als Symbol von Macht, sondern als Gegenüber, das für die Betrachter:in eine individuelle Aussage bereithält. Das dritte uns anblickende Auge steht symbolisch für diese persönliche Ebene von Kunstwahrnehmung. Übergeordnet reiht sich die Arbeit mit dem Titel Soon, ein Wortspiel aus den englischen Begriffen für Sonne und Mond, in Matusz’ Recherche zu Konzepten des sogenannten «Framings» (Rahmen) ein. In den Sozialwissenschaften untersucht der Begriff, wie wir über bestimmte Rahmenhandlungen und -konstruktionen mit unterschiedlichen Akteur:innen kommunizieren oder in Rückbezug auf vorliegendes Wissen Sachverhalte gedanklich verarbeiten. Erfolgreiches Framing erlaubt es wenig fassbare Themen so zu kontextualisieren, dass die Adressat:innen an das anknüpfen können, was sie wissen. Darin liegt für Matusz das Potential ihrer künstlerischen Arbeit als Framing-Technik.


Marie Matusz (*1994) lebt und arbeitet in Basel. Sie schloss 2016 einen BA in Visueller Kunst an der HEAD Genf und 2018 einen MA an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (FHNW) Basel ab. Ausgangspunkt von Matusz’ Arbeit ist die kritische Auseinandersetzung mit Formen und den ihnen zugrundeliegenden Bedeutungen. Sie zieht hierfür eine Vielzahl philosophischer, soziologischer und linguistischer Theorien bei; manifest werden ihre Recherchen in minimalen skulpturalen Installationen, Klangarbeiten, Schriften und Filmen.

Text: Yasmin Afschar