«Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt.»
Mit dem Titel der Ausstellung, «Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt.», zitieren wir eine Notiz, die Lisbeth Sachs auf einem Plan eines ihrer Bauwerke, der Kunsthalle, hinterlassen hat. Der Titel zog sich wie ein roter Faden durch den gesamten kuratorischen Prozess. Mit der Überlagerung zweier gegensätzlicher Architekturen schaffen wir eine neue räumliche Konstellation, die sich zwischen Erinnerung und Imagination bewegt.
Die Ausstellung nimmt Bezug auf ein bemerkenswertes Gebäude von Lisbeth Sachs (1914-2002), eine der ersten eingetragenen Architektinnen der Schweiz und Zeitgenossin von Bruno Giacometti, der den Schweizer Pavillon in den Giardini entwarf. Diese zeitliche, wenn auch nicht räumliche Nähe wirft die Frage auf: Was wäre, wenn Lisbeth Sachs den Schweizer Pavillon gestaltet hätte? Auf den ersten Blick erscheint dies kühn; doch beide Architekt:innen konzipierten in den 1950er-Jahren Pavillons zur Präsentation von Kunstwerken. Giacomettis Pavillon für die Biennale in Venedig wurde 1952 fertiggestellt. Sachs’ kurzlebige Kunsthalle, die sie für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1958 in Zürich entworfen hat, wurde kurz nach Ausstellungsende abgerissen und überlebte als Projekt in den Archiven. Der Akt des (Wieder-)Aufbaus macht eine frappierende Leerstelle im No Woman’s Land der Giardini sichtbar – alle 29 nationalen Pavillons wurden von Männern entworfen.
Eine ortsspezifische Klanginstallation aus Tonaufnahmen, die über eineinhalb Jahre hin weg entstanden – von Gesprächen bis hin zu Baustellenklängen – offenbart die Vielschichtigkeit des Projektprozesses und fügt dem architektonischen Raum eine weitere Dimension hinzu: die des Zuhörens. Vergangene und gegenwärtige Stimmen verschmelzen zu einer «klingenden Architektur», die ein Archiv von Aufnahmen schafft und den Raum zum Leben erweckt.
Das Projekt wird von den vier Architektinnen Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins und Myriam Uzor geleitet, die die Gruppe Annexe bilden, sowie der eingebetteten Künstlerin Axelle Stiefel. Annexe nutzt Fiktion, um das Werk wegweisender Designerinnen wiederzubeleben, und eröffnet eine Diskussion mit und ein Lernen von denen, die vor uns kamen.

Was wäre, wenn es anders gewesen wäre?
Lisbeth Sachs’ Kunsthalle auszugraben und in die Gegenwart einzubauen, weckt das räumliche Gedächtnis von weniger bekannten Architektinnen. Sachs (1914–2002) war eine der ersten eingetragenen Architektinnen der Schweiz und Zeitgenossin von Bruno Giacometti, der den Schweizer Pavillon in den Giardini della Biennale di Venezia entwarf. Die fragmentarische Neuinterpretation dieses besonderen Pavillons eröffnet einen strukturellen und symbolischen Dialog: Beton wird in Holz übersetzt; das zentrale Beleuchtungssystem der Originalpläne wird zum Vehikel der akustischen Übertragung — zwischen Sachs‘ Generation und heute, aber auch zwischen architektonischen und künstlerischen Konzepten. Wenn Licht in Klang umschlägt, kippt die Kunsthalle in einem Akt der ständigen Feinabstimmung in eine andere Dimension. Es kommt zu einer Verhandlung um die Erhaltung der beiden Strukturen, die sich überlagern und in ihrer Formensprache nicht unterschiedlicher sein könnten.
Wenn wir das Unbekannte in das Bekannte injizieren, rutschen wir in den Bereich des Unheimlichen, ohne eine andere Rechtfertigung als die offensichtliche Frage: Was wäre, wenn es anders gewesen wäre?
Und unsere Antwort lautet: Wir müssen es erleben, um es zu glauben. Und manchmal müssen wir es bauen, um es zu fühlen.

Die Kunsthalle von Lisbeth Sachs
Lisbeth Sachs’ ursprünglicher Entwurf für die Kunsthalle zeigt einen einzigartigen Zugang zu Form, Struktur, Bewegung und Landschaft. Konzipiert als temporärer Pavillon für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa), die 1958 in Zürich stattfand, wurde der Bau kurz nach Ausstellungsende wieder abgerissen. Die Ausstellungsobjekte an den strahlenförmig angeordneten Wänden konnten im Einklang mit der landschaftlichen Umgebung erlebt werden: Lichtdurchlässige Membrandächer, die wie Schirme um zentrale Säulen gespannt waren, streuten das Tageslicht. Stützen, Wände und Ringe stabilisierten die offene Struktur in spannungsvoller Harmonie und luden zu einer fliessenden Bewegung ein, vom Park hin zum Pavillon. Im Konzert mit dem Wogen der Vorhänge und Menschen verwandelte sich der Raum selbst in eine performative Choreografie:
«Wandernd, schlendernd, auf geschwungener freier Spur.»
Annexe ist eine Gruppe von Architektinnen, die für eine Kultur des Bauens steht, die von dem ausgeht, was bereits vorhanden ist.
An der Schnittstelle zwischen Architektur und Performance setzt Annexe am Bestehenden an und eröffnet neue räumliche Möglichkeiten. Die Gruppe nutzt die Fiktion als Mittel, um die Arbeit von Designpionierinnen um Leben zu erwecken und in einen lernenden Dialog mit denjenigen zu treten, die vor uns kamen. Die Arbeit von Annexe basiert auf Beziehungen, sie verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und materielle Ressourcen mit immateriellem Wissen. Die Gruppe bietet ein Vehikel, um Formen der Zusammenarbeit und feministische Baupraktiken zu ermöglichen.

„Zuhören“ als Praxis, die Dinge öffentlich macht
Mit der Eingliederung einer ortsspezifischen Klanginstallation wird der Schweizer Pavillon in einen multisensorischen Erfahrungsraum transformiert. Der Prozess des Projektes ist mit Field recordings dokumentiert, in welchen Gespräche, Orte und Bauarbeiten aufgenommen wurden.
Zeit und Bewegung entwickeln diese Klangkomposition und laden ein, einer «widerhallenden Architektur» zu begegnen, einer immersiven räumlichen Erinnerung, die vergangene und gegenwärtige Stimmen hervorbringt und verschmilzt. Die nicht-lineare Natur der Installation verbindet nicht nur verschiedene Akteurinnen und Akteure; sie fördert auch ein Architekturverständnis, das über die Rolle einer bloss räumlichen Struktur hinausgeht — sie wird zu einem Resonanzkörper, der mit Klang erfüllt ist.
Das Unvollendete — oder besser gesagt das offene Ende — gehört in den Bereich des Poetischen, in dem konventionelle Denkweisen ausser Kraft gesetzt werden und ein neuer Raum erdacht werden kann. Dieser fiktionale Raum lädt uns ein, über wichtige Fragen nachzudenken: Wie möchten wir heute leben und bauen? In welcher Beziehung stehen wir zur Natur? Wo stehen wir als Individuen und Teil einer Gemeinschaft?
Into the spaceship, Granny
‘Me?’ she’ll say, just a trifle slyly. ‘But I never did anything’. ‘You ought to send one of those scientist men, they can talk to those funny-looking green people. Maybe Dr. Kissinger should go. What about sending the Shaman?’1 – Ursula K. Le Guin
Es ist ein Sprung ins Ungewisse. Denn für diese Reise gibt es keine Erklärung. Wer die Parallelwelt betritt, geht auf einem Weg der seltsamen Umstände. Setz Deine 4D-Brille auf.
Stell Dir vor: Ursula K. Le Guin fordert die Menschen auf, darüber nachzudenken, wer sie vor den Ausserirdischen «angemessen» vertreten könnte. Sollte es diejenige sein, die am längsten gelebt hat und am «Rande der Welt» steht — wie Grossmutter, mit all ihrer Lebenserfahrung?
Führ Dir vor Augen: Grossmutter kehrt von ihrer Reise in eine andere Welt in entmaterialisierter Form zurück, als Trägerin eines rätselhaften Bauplans mit der Aufschrift: «Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt.»
Die Architektinnen der Gruppe Annexe erhalten die Botschaft und nehmen die Herausforderung an. Sie machen sich auf die Suche nach der endgültigen Form — einer Konstruktion im Schweizer Pavillon. Lisbeth Sachs’ kurzlebige Kunsthalle für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1958 in Zürich inspiriert sie zu einer kühnen architektonischen Geste, die Bruno Giacomettis Gebäude von 1952 überlagert. Es ist ein materielles Unterfangen: Sachs’ Entwurf wird gespiegelt, auf den Kopf gedreht und Giacomettis Plan gegenübergestellt. Die Umkehrung wird Wirklichkeit und trifft auf unsere Netzhaut. In der Umkehrung von Druck und Matrix wurde die Moderne geboren.
Sachs’ Entwurf holte den Park in den Ausstellungsraum und hob die Logik des Binären auf — er verwischte nicht nur die Grenzen, sondern offenbarte deren Künstlichkeit. Diese architektonische Geste vollzieht eine stille Revolution: Wo einst Gegensätze standen (innen/aussen, dauerhaft/vergänglich, anwesend/abwesend), bleibt nur noch ein fliessendes Werden. Die endgültige Form existiert gerade deshalb, um ihre eigene Existenz zu hinterfragen — eine bewusste Behauptung, dass Architektur nie wirklich vollständig ist.
Wir begeben uns auf eine turbulente Reise in das instabile Gelände der Giardini der Biennale — einem «No Woman’s Land». Die Kunsthalle wird zu einem Symbol der missglückten Kommunikation. Wir halten inne, um ein altes Problem neu zu betrachten: die Abwesenheit, die Diskontinuität, die Unbeständigkeit des Lebens. In den Rissen der Realität und der Geschichte gibt uns Science-Fiction eine Orientierung, um in neue Räume und Dimensionen vorzudringen. (AS)
- Le Guin, Ursula, “The Space Crone (1976)”, in Dancing at the Edge of the World: Thoughts on Words, Women, Places, Grove Press (2017), p. 207. ↩︎
Curators
Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Axelle Stiefel, and Myriam Uzor
Collaborators
Tobias Becker, Project Coordinator
Ella Eßlinger, Grant Writer
Emma Kouassi, Graphic Design
Octave Magescas, Sound Design
Leopold Strobl, Supporting Architect
Commissioner: Swiss Arts Council, Pro Helvetia
Steering Committee: Philippe Bischof, Director; Jérôme Benoit, Deputy Director; Anna Arutyunova, Head of Global Network and International Affairs; Katharina Brandl, Head of Visual Arts; Ines Flammarion, Head of Communication
Project Team: Sandi Paucic, Project Leader; Rachele Giudici Legittimo, Project Manager; Manuel Richiusa, Project Assistant
Communication Switzerland: Ursula Pfander
International Communication: Pickles PR, Costanza Savelloni, Zeynep Seyhun, Caroline Widmer
Venice Team: Tommaso Rava, Pavilion Manager; Alvise Draghi, Architectural Consultant;Jacqueline Wolf, Project Assistant
Leaflet
G. Calastri/INTERSERV, Translation
Grafiche Veneziane, Printing
ABC Dinamo, Typefaces
Partners
Blumer-Lehmann AG (Rafael Gemperle, Elisabeth Naderer), Carl Meier Sohn AG, e-flux Architecture (Nick Axel, Nikolaus Hirsch), Falu Vapen Schweiz GmbH, F+F Schule für Kunst und Design, gta Archiv (Irina Davidovici), gta Verlag (Jennifer Bartmess, Ursula Bein, Moritz Gleich, Vinzenz Meyner, Thomas Skelton-Robinson, Ulrike Steiner), Hochparterre, Jakob Rope Systems (Fabian Graber, Jann Mathys), Kunstbulletin, Kunstgiesserei St.Gallen AG (Moritz Lehner), Neuco AG, prototyp.work (Stephan Töngi), Rebiennale (R3B) s.r.l., Schnetzer Puskas Ingenieure (Lorenz Kobel, Jan Stebler), Silent Gliss, Tisca Tischhauser AG (Daniela Seifert, Domenica Tischhauser), Tweaklab AG (Kaspar Hochuli)
Sponsors
Swisslos-Fonds des Kanton Aargau, Amstein + Walthert AG, Boltshauser Architekten AG, BSA, BSLA, Stiftung Corymbo, Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit, Departement Architektur ETH Zürich, Canton de Genève, Ville de Genève, Gruner AG, Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung, Ikea Stiftung Schweiz, Jaeger Coneco AG, Laufen, Müller Sigrist Architekten AG, PAF – Performing Arts Fund, Schmidlin Architekten, Schnetzer Puskas Ingenieure AG, SIA, Fondation Sotto Voce, Kanton St. Gallen Kulturförderung Swisslos, Canton de Vaud, Finanzdepartement der Stadt Zürich
Publications
Accompanying the exhibition, the book Lisbeth Sachs: Animate Architecture is being published by gta Verlag Zurich. It is the English translation of Lisbeth Sachs: Architektin. Forscherin. Publizistin by Rahel Hartmann Schweizer, and includes a new foreword by Annexe.
Phantasma is a collaboration between e-flux Architecture and the Swiss Pavilion at the 19th International Architecture Exhibition, La Biennale di Venezia curated by Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Axelle Stiefel and Myriam Uzor.
With the start of the exhibition, a series of essays will be published sequentially on e-flux Architecture:
Annemarie Bucher: Displacement and Overlay: Behind the Scenes of the Venice Biennale and SAFFA 58, Rike Felka: Lisbeth Sachs and the Biomorphic, Rahel Hartmann Schweizer: The Most Wonderful Palaces, Khensani Jurczok-de Klerk: Remembering Through Spatial Storytelling, Kate Lacey: A Place for Listening, Emma McGormick Goodhart: Metabolic Matterings
Acknowledgments
The curators wish to express their gratitude to the many private donors and individuals who supported the project: 6a architects, Vera Bay-Sachs and Carola Sachs, Christine Binswanger, Bivgrafik, Verena Brunner and François Renaud, Alexa den Hartog, Dieter Dietz, Victoria Easton, FAZ architectes, Felix Lehner and Katalin Deér, Daniel Ganz, Simone Kost, Elisabeth and Peter Märkli, Valérie Ortlieb, Carola Sachs, Annette Spiro, Fabienne and Friedrich Stiefel, Annelies Stoffel, Severin Stucky, Brigitte Zünd and Peter Zünd.
The research of Rahel Hartmann Schweizer, along with the Sachs archive at the gta Archive at ETH Zurich, has been invaluable to Annexe’s understanding and contextualization of this particular work. Thanks to Annemarie Bucher, Rike Felka, Rahel Hartmann Schweizer, Khensani Jurczok-de Klerk, Kate Lacey, and Emma McCormick Goodhart for their significant writing and research.
A big thank you to Yasmin Afshar and Gabrielle Schaad for hosting a conversation as part of Le Foyer – In Process and to Katalin Deér for contributing a beautiful edition Kleiner Grundriss (Lisbeth Sachs) 2017/2024.
Special thanks to Estelle Balet and Gaby Lehner, who helped building the foundations for this project, as well as to Tobias Becker, Ella Eßlinger, Emma Kouassi, and Octave Magescas, whose dedication extended far beyond their defined roles. Finally, a heartfelt thanks to Moritz Lehner, Tibo Smith, Leopold Strobl, and Jeremy Waterfield for their continuous and unwavering support.