Eine Unterhaltung über Recherchebeiträge

Litteratura

Remartga: Quest artitgel n’è betg disponibel per rumantsch.

Dirk Koy
© Dirk Koy

Seit 2023 vergibt Pro Helvetia Recherchebeiträge für Autorinnen und Autoren. Annette Hug, Lou Lepori, Begoña Feijóo Fariña und Laura Di Corcia gehören zu den Autorinnen und Autoren, die bereits einen Recherchebeitrag erhalten haben. Im folgenden Interview berichten sie, wie sich ihre Recherche gestaltet hat:

Was hat der Recherchebeitrag Ihnen ermöglicht?

Annette Hug: In einer ersten Etappe konnten die Künstlerin Anna Wiget und ich eine Woche lang zusammen lesen, zeichnen, diskutieren, schreiben und nachdenken. Diese Art der Konzentration zu zweit, unter Ausschluss der üblichen Termine und Alltagsaufgaben, war ein grosses Geschenk. Für mich passierte da wirklich Unerwartetes: Ich löste mich von einigen fixen Ideen, was den Inhalt und was die Form betraf. Das hatte ich mir erhofft.

Lou Lepori: Dorthin zu reisen, wo die (nicht fiktiven) Figuren meines Romans hingegangen sind. Das war eine grosse Herausforderung, denn Vincenzo und Carlo – mein Grossvater und sein «geheimer» Liebhaber – haben den Atlantik überquert, um ihr Fleckchen  Freiheit zu finden. Mein Vorfahre hat zum ersten Mal ganz bewusst (wenn auch voller Schuldgefühle) eine Grenze überschritten, die sowohl sexueller als auch geografischer und sprachlicher Natur war.

Annette Hug
Annette Hug

Laura Di Corcia/Begoña Feijoo Fariña: Laura Di Corcia und Begoña Feijoo Fariña: Ohne den Recherchebeitrag wäre unsere Arbeit, die darin besteht, über die Museumsräume und inspirierenden Orte des Puschlav zu schreiben, nicht möglich gewesen. Dank des Recherchebeitrags hingegen konnten wir uns die Zeit nehmen, die wir brauchten – eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Schreiben.

In welcher Schaffensphase haben Sie den Recherchebeitrag gebraucht?

Laura Di Corcia/Begoña Feijoo Fariña: Der Beitrag hat unsere Recherche überhaupt erst ermöglicht, also die Museumsbesuche sowie unsere Zusammenkünfte, bei denen wir uns darüber austauschten, woraus unsere Arbeit bestehen sollte und wie wir sie konkret umsetzen wollten. Uns diese Zeit zu nehmen und uns inspirieren zu lassen, wäre ohne Unterstützung so nicht möglich gewesen.

Begoña Feijoo Fariña und Laura Di Corcia
Begoña Feijoo Fariña und Laura Di Corcia

Lou Lepori: In einer Zwischenphase. Da es sich um eine Autofiktion handelt, hatte ich für einen Teil der Erzählung bereits das Gerüst, aber es fehlte noch die Auskleidung. Ein Hauch von Leben – einem Lebens, das ich nicht gekannt habe – musste meinem Schreiben durchdringen. Es war wichtig, «diese Orte (ihre Orte) zu leben», um die vergessene Geschichte nachzuzeichnen.

Annette Hug: Ich hatte schon lange die Idee, von einer Textstelle in einem Buch des philippinischen Autors José Rizal auszugehen, eine Beobachtung von ihm mit einem Relief im Zürcher Grossmünster in Verbindung zu bringen. Aber ich wollte das nicht allein tun. Der Recherchebeitrag erlaubt es, von dieser Anekdote aus etwas zu entwickeln. Also: Daraus einen Anfang zu machen.

Wie konkret war Ihr Projekt als Sie sich für den Beitrag beworben haben?

Lou Lepori: Das Projekt war schon weit fortgeschritten, da es mich seit gut einem Jahrzehnt begleitet, seit dem Tod meiner Mutter. Aber die Erinnerungsarbeit war zu kopflastig, ich musste in das urbane Amerika eintauchen, um diesen Geistern Gestalt zu verleihen. Ich hatte bereits vom Kanton Freiburg ein kleines Schreibstipendium für diesen Roman erhalten, aber es erschien mir schwierig, die Arbeit fortzusetzen, ohne mich physisch vor Ort zu begeben. Man kann nicht «aus dem Nichts» schreiben. Vielmehr gilt es eine Kraft zu entwickeln und das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen einer Spannung, die unsere Erzählung von innen her entflammt, und dem Wort. Denn das Ziel besteht nicht darin, etwas zu «erzählen», im Sinne von Kommunikation, sondern alle, die unser Werk lesen, mitzunehmen, gleichzeitig aber ihnen und ihrer Fantasie Platz einzuräumen. Der Frage des Körpers kommt dabei eine wesentliche Rolle zu: unserem Körper, dem Körper der Wörter, dem Körper des Lesers bzw. der Leserin.

Lou Lepori © Matthieu Gafsou
Lou Lepori © Matthieu Gafsou

Annette Hug: Es gab eine Idee, Anna Wiget und ich hatten uns schon einmal für einen Nachmittag getroffen. Wir hatten die Recherche auch an einer anderen Stelle eingegeben, dort aber kein Geld erhalten. Wir hatten eine Spur, der wir folgen wollten, um zu einem gemeinsamen Projekt zu kommen.

Laura Di Corcia/Begoña Feijoo Fariña: Das Projekt bestand bereits, auch wenn es im Verlauf des Arbeitsprozesses in einigen Punkten abgeändert wurde und sich heute leicht von den ursprünglichen Plänen unterscheidet, vor allem, was die endgültige Zusammenstellung der Texte betrifft.Main text. (Will be displayed above the info boxes on mobile.)

Laura Di Corcia

Laura Di Corcia wurde 1982 in Mendrisio geboren. Sie ist als Lehrerin und Kulturjournalistin tätig und arbeitet als Literatur- und Theaterkritikerin mit verschiedenen Zeitungen und Radiosendern zusammen. Sie debütierte 2015 mit dem Gedichtband «Epica dello spreco», dem «In tutte le direzioni» (LietoColle, 2018 – Finalistin beim Premio Maconi) und «Diorama» (Tlon, 2021) folgten. Mit Letzterem gewann sie den Premio Terra Nova 2022 (Preis der Schweizerischen Schillerstiftung). Zudem war sie Finalistin bei mehreren italienischen Staatspreisen (Premio Tirinnanzi und Premio Montano). Sie schreibt Hörspiele für RSI Radiotelevisione svizzera und ist Mitglied des Komitees der Solothurner Literaturtage.

Begoña Feijoo Fariña

Begoña Feijoo Fariña, 1977 in Vilanova de Arousa im Nordwesten Spaniens geboren, zog mit zwölf Jahren in die Schweiz. Sie verfügt über einen Hochschulabschluss in Biowissenschaften und ist heute als Autorin und Kulturförderin tätig. Sie hat unter anderem «Per una fetta di mela secca»(Gabriele Capelli Editore, Mendrisio, 2020) veröffentlicht, ist eine der beiden Gründerinnen des Unternehmens «inauDita» und Schöpferin des Theaterfestivals «I monologanti» sowie des Festivals «Lettere dalla Svizzera alla Valposchiavo».

Annette Hug

Annette Hug ist 1970 in Zürich geboren. Sie hat in Zürich Geschichte und in Manila «Women and Development Studies» studiert. Nach Tätigkeiten als Dozentin und Gewerkschaftssekretärin lebt sie seit Januar 2015 als freie Autorin. Im rotpunktverlag erschienen 2008 «Lady Berta» und 2010 «In Zelenys Zimmer», im Verlag Das Wunderhorn «Wilhelm Tell in Manila» (2016) und «Tiefenlager» (2021). Annette Hug wurde 2017 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Alle zwei Wochen erscheint in der Wochenzeitung WOZ ihre Kolumne «Ein Traum der Welt». Sie hat begonnen, philippinische Gegenwartsliteratur ins Deutsche zu übersetzen. Im April 2023 publiziert die Edition Tincatinca den Gedichtband «Offenes Meer» von Luna Sicat Cleto, aus dem Tagalog (Filipino) übersetzt von Annette Hug

Lou Lepori

Lou Lepori ist 1968 in Lugano geboren und arbeitet in Lausanne für das Radio der italienischsprachigen Schweiz. Er ist Doktor der Theaterwissenschaften und Mentor für literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Er hat die queere Zeitschrift Hétérographe und die Theatergruppe Tome Trois Théâtre gegründet. Lou Lepori schreibt auf Französisch und Italienisch und übersetzt zwischen diesen beiden Sprachen.